Brief des Johannes Althusius ans JAG

Sehr verehrter Herr Direktor Harbrink,

verehrtes Kollegium, liebe Eltern,

und nicht zuletzt liebe Schülerinnen und Schüler!

 

 

Es ist mir Freude und Vergnügen, euch heute zu begrüßen und meinen Dank auf diese Weise auszudrücken. Ich möchte gleich gestehen, dass ich mich heute außerordentlich geehrt fühle. Denn ich habe zu Lebzeiten nie daran  gedacht, dass man sich noch nach 450 Jahren an mich erinnert. Das rührt mich zutiefst. Eure Schule trägt seit vielen Jahren meinen Namen. Manchmal frage ich mich , womit ich das verdient habe. Ja, es bewegt mich sehr, dass ihr heute mit vielen Aktivitäten und Projekten, mit einem Schulfest, das ihr wohl fleißig vorbereitet habt, meiner gedenkt. Das hat natürlich einen einfachen Grund: Diedenshausen, Berleburg, die alte Grafschaft zu Sayn – Wittgenstein sind meine Heimat. Und ich sage nicht zu viel, die frühen Kindheitserfahrungen und Eindrücke haben mich für das ganze Leben geprägt. Was ich dort in den frühen Jahren erlebt habe, die Lebenseinstellungen und Werte sind zu den Leitideen meines späteren Lebens geworden und haben ganz gewiss auch meine Berufswahl bestimmt.

 

Ach, ich erinnere mich an so vieles! In Diedenshausen waren es insbesondere die vorbildliche Nachbarschaftshilfe und Hilfsbereitschaft, die mir unvergessen geblieben sind. Wie auf ein Kommando kamen die Leute zusammen: bei der Ernte, um das Heu des Nachbarn noch vor dem Gewitter einzufahren. Wenn ein Haus niedergebrannt war, halfen alle Bauern nachher mit, holten das Holz aus dem nahe gelegenen Hessen, mauerten und zimmerten, die Fachleute sorgten für neues Fachwerk. Das war schon tief beeindruckend, nach wenigen Wochen noch vor dem Wintereinbruch stand ein neues Haus da, die Familie konnte die Notunterkunft verlassen und das neue Haus beziehen. Natürlich musste ich auch selber wie jedes andere Kind mithelfen. Ich musste das Vieh hüten, mit den Eltern auf dem Feld arbeiten, und mein Vater, der neben der Mühle auch noch einen Wollhandel betrieb, schickte mich oft zu Botengängen auf die Gehöfte und in die Nachbarorte. Ich wurde dort von den Menschen immer herzlich aufgenommen, gut bewirtet und oft beschenkt.

 

Aber ich möchte die Vergangenheit nicht schön reden. Es gab auch Konflikte und Streitigkeiten in Diedenshausen, die oft mit der Grenze zusammenhingen, die mitten durch das Dorf führt. Dann kamen die Streithähne zu meinem Vater, der zwar kein ausgebildeter Richter war, dem man aber zutraute, die Streitfälle zu schlichten. Im Dorf wird ja alles erzählt und breit getreten. Und so habe ich auch bei dieser Arbeit viel von ihm gelernt. Ach, und dann gab es die Grenzgänge, an denen das halbe Dorf und die gräflichen Beamten teilnahmen. Anschließend gab es immer ein großes Festessen in unserem Haus. Über Tage hatten wir Schinken und Wurst bis zum Umfallen. Bei solch einem Umtrunk lernte ich eines Tages auch zwei Herren kennen, denen ich – wenn man so will – meine spätere Karriere verdanke, den Reformator Caspar Olevian und den Grafen Ludwig. Der Graf war eine in jeder Beziehung interessante Persönlichkeit. Er hatte ganz Europa bereist, sprach die alten und neuen Sprachen fließend, und er war den Wittgensteinern ein guter Landesvater, der wirklich menschlich regierte. Es steht  Berleburg gut an, dass die Hauptschule auf dem Stöppel heute Ludwig - zu - Sayn - Wittgenstein - Schule heißt. Beide Persönlichkeiten haben mich, neben meinem Vater, stark geprägt. Wenn der Graf  mein Studium nicht mitfinanziert hätte, wäre es meinem Vater nicht möglich gewesen, meinen Bruder und mich studieren zu lassen.

 

Nun bin ich schon bei meinem Studium. Ja, und hier muss ich mal an etwas erinnern, das es heute nicht mehr gibt. Damals hieß es: ohne Latein – kein Studium. Wir mussten lateinisch reden, schreiben und disputieren. Ihr könnt es euch heute kaum vorstellen, wie wir Latein gebimmst haben. Nach der Lateinschule habe ich noch einmal eine Vorbereitungsschule, das Pädagogium, in Marburg besucht, um meinen lateinischen Stil zu verbessern und die Allgemeinbildung zu vertiefen,  besonders in Geschichte und den Naturwissenschaften. Den ersten Teil meines Studiums habe ich dann in Köln absolviert. Graf Ludwig hat mich dort bei seinem Bruder Georg einquartiert. Georg war Domprobst und verfügte über die besten Beziehungen. In Köln standen mir sofort alle Türen offen, man brauchte nur den Namen Sayn – Wittgenstein erwähnen. Dort habe ich zum ersten mal Stadtluft geatmet. Die Lastschiffe und Kähne auf dem Rhein, der rege Handel und die bunten Märkte waren für mich faszinierend, dazu die Pilger in ihren Trachten aus allen Herren Ländern. Die 200 Einwohner in Diedenshausen kannte ich dagegen alle noch mit Namen, Köln, das war eine tolle Atmosphäre für uns Studenten. Nicht zu vergessen, es gab dort ein köstliches Bier, nach geheimen Rezepten gebraut, das besonders nach den trockenen Aristoteles-Vorlesungen gut schmeckte und floss. Aber wenn im Februar der Rhein Hochwasser führte und meine Bude unter Wasser stand, habe ich mich auch manchmal in die gemäßigte Zone der Wittgensteiner Berge gewünscht. Bei allem Land auf und Land unter habe ich eins in Köln gelernt, wir Menschen können nicht isoliert leben, von Geburt an brauchen wir die Hilfe der Anderen, die Hilfe der Gemeinschaft, ihr würdet vielleicht heute sagen: die Hilfe eines Netzwerks, wir sagten damals: Menschen sind soziale oder politische Wesen. Als Erwachsene geben wir also der Gesellschaft nur zurück, was wir zuvor von ihr empfangen haben.

 

Nach dem Grundstudium musste ich leider Abschied von Köln nehmen. Mit einer kleinen Gruppe von Studenten zog ich rheinaufwärts nach Basel. Das war eine abenteuerliche Wanderung, überall lauerten Wegelagerer und Diebe, in den Herbergen musste man nachts Rucksack, Hab und Gut am Körper festbinden, um am nächsten Morgen nicht aller Dinge beraubt aufzuwachen. Aber in Basel, einer absoluten Spitzenuniversität, wo noch der Geist des berühmten Gelehrten Erasmus wehte, wurden wir voll entschädigt. Auch Basel war eine erstaunlich weltoffene Stadt, hier traf man die französischen Glaubensflüchtlinge, Gelehrte aus Padua und Salamanca, international bekannte Schriftsteller und Verleger, Wissenschaftler und Erfinder. Hier sind mir vor allem einige Touren mit Freunden durch die Schweiz in bester Erinnerung, nach Genf und ins Berner Oberland. Ich war tief beeindruckt von der Gastfreundschaft der Eidgenossen und ihrem politischen System, die Selbstverwaltung der Kantone fand ich sensationell. Mein Jura-Studium habe ich in Basel mit einer Doktorarbeit über das Erbrecht abgeschlossen. Und während ich noch in Vorlesungen des Theologen Grynäus saß, der später mein Freund wurde, erreichte mich ein tolles Angebot meines Wittgensteinsteiner Lehrers Caspar Olevian. Dieser hatte nämlich inzwischen seine Stelle in Berleburg als Hofprediger und Prinzenerzieher aufgegeben – ihr wisst ja, Graf Ludwig hatte 22 leibliche Kinder und brauchte dafür in der Tat einen standhaften Erzieher. Aber Olevian war der geborene Professor, und als Graf Johann in Herborn die Hohe Schule gründete und Olevian die Stelle des Gründungsrektors anbot, nahm dieser gerne an. Es war nun eine der ersten Aufgaben Olevians, junge, tatkräftige Professoren zu gewinnen und die Akademie aufzubauen. Seine Wahl fiel auch auf mich und zu einem solchen Angebot sagt man nicht Nein. Und im Rückblick geurteilt, ihr würdet sagen, es war eine super Zeit in Herborn, nicht zuletzt weil ich dort meiner alten Wittgensteiner Heimat wieder näher rückte und ich meine Familie und den alten Grafen Ludwig, meinen väterlichen Freund und Förderer besuchen konnte.

 

Schnell sprach sich die Neugründung unserer Akademie in ganz Europa herum. Gleich im ersten Semester schrieben sich Studenten aus Schottland, den Niederlanden und Dänemark ein. Es waren, verglichen mit den Massenuniversitäten heutiger Zeit, überschaubare Verhältnisse. Ich kannte alle Studenten persönlich und erfuhr viel aus ihrem Leben und ihren Ländern. Manchmal fanden unsere Seminare auch in Siegen statt. Dort verliebte ich mich auch in Margarete, die ich später heiratete. In jenen Jahren hatte ich viel zu tun. Neben der Hochschultätigkeit war ich Rechtsberater des Grafen Johann. Wir mussten für unsere neue Hochschule werben und das taten wir mit unseren Veröffentlichungen. Zu der Hochschule gehörte die Druckerei Corvinus und  über die Frankfurter Buchmesse gingen unsere Bücher und Schriften sofort in alle Welt. 1592 habe ich eine kleine Schrift gegen die völlig entgleisten Hexenprozesse verfasst. Diese armen Kinder, Frauen und Männer sollten wenigstens einen fairen, nachvollziehbaren Prozess erhalten und nicht einfach dem Aberglauben und Volkszorn ausgeliefert werden. Heute weiß ich, das war viel zu wenig gesagt. Einen Sündenbock für Missernten oder Krankheiten zu suchen: das ist grober Unfug und menschenverachtend. Aber ich war damals Kind meiner Zeit, befangen in Unkenntnis und Vorurteilen. Deswegen seid vorsichtig, wenn ihr mich zitiert! Ich würde heute manches ganz anders und manches eben auch gar nicht mehr sagen.

 

Daneben habe ich eine umfangreiche Ethik geschrieben, besser gesagt, schreiben müssen. Das gehörte einfach zu den Pflichten meines Lehrstuhls. Die jungen Leute, die unsere Akademie besuchten, mussten ja später in den Kanzleien und an den Höfen gewandt und diplomatisch auftreten. Was man in diesem Berufsstand alles beachten muss, im Blick auf das Auftreten, das Benehmen, die Kleidung: das habe ich in der Ethik niedergeschrieben, zugegeben mit einem sehr mäßigen Interesse. Ich wollte das Buch auch gar nicht auf die Frankfurter Buchmesse bringen, aber mein jüngerer Cousin Philipp ließ in seiner Begeisterung nicht locker und hat schließlich die beiden Bücher über die Lebensführung auf eigene Faust veröffentlicht.

 

Eine sehr viel kürzere Schrift war mir dagegen viel wichtiger. Zweimal wurde ich zum Rektor der jungen Akademie gewählt und hatte damit die Aufgabe, vor versammelter Mannschaft die Eröffnungsreden zu Semesterbeginn zu halten. Ich schreibe „Mannschaft“, denn Frauen waren damals zum Studium leider nicht zugelassen. Sie hatten nach unserer damaligen Auffassung, andere Aufgaben zu erfüllen, in der Familie und in der Kindererziehung. Ich sage nochmals „leider“. Und nebenbei gesagt, ich freue mich, dass sich das heute geändert hat und viele Schülerinnen das JAG besuchen und Männer und Frauen gleichberechtigt unterrichten. Nun gehörten wir natürlich damals auch zu den fortschrittlichen Kräften in der Gesellschaft, wir traten ja für die Erneuerung des öffentlichen Lebens ein. Aber wir hatten eine andere Front, wir mussten erst einmal bekannt machen, dass für die Veränderungen in der Gesellschaft Schule und Bildung erforderlich sind. Und dieses Thema habe ich dann für meine Rektoratsreden ausgewählt. Nun muss ich hier mal aus dem Nähkästchen plaudern. Meine beiden Kollegen Piscator und Zepper sprachen ein glänzendes Latein und kannten sich auch mit allen stilistischen Raffinessen aus. Um mich nicht zu blamieren, habe ich meine Collegmappe mit den lateinischen Stilübungen herausgeholt und meine Rede in ciceronischem Stil veredelt. Und ich habe mich ins Fäustchen gelacht, als dies vor einigen Jahren ein pensionierter Lateinlehrer bemerkte, aber da er ein treuer Althusius-Fan war,  lobte er meine lateinische Brillianz und stilistische Souveränität. Wenn der wüsste...Aber gute Freunde sind eben mit nichts zu bezahlen.

 

In diesem Zusammenhang möchte ich eins nicht vergessen. Ich fand es ganz toll, dass und wie ihr meine Gedanken aus der Politica und der Schulschrift aufgegriffen und in eurem Schulprogramm umgesetzt habt. Das ist einfach vorbildlich! In der Tat ging es mir immer wieder um das gegenseitige Helfen, füreinander Verantwortung über- nehmen, Zivilcourage zeigen, ja um den wehrhaften Gerechtigkeitssinn, wie ihr das genannt habt. Und ich weiß, in wie vielen Projekten und Modellen diese Anliegen in eurer Schule zum Zuge kommen. Ich denke an das Projekt der Schülerstreit- schlichtung, das Busbegleiterprogramm, die Nachhilfe „Schüler helfen Schüler“ oder das Mentorenmodell in den Anfangsklassen. Einer meiner alten Lehrer sagte immer wieder: „Fangt an!“ Nur diese beiden Worte. Mit guten Vorsätzen muss man immer wieder neu anfangen, sich immer wieder einen Ruck geben. In diesem Sinne: Fangt an! Mit neuem Engagement für eure Klassengemeinschaft, für ein noch besseres Zusammenleben in eurer Schule, in eurer Stadt und auf den Dörfern!

 

Nun habe ich schon gerade die Politica genannt. Ich muss zugeben, auf dieses Buch, mein Hauptwerk, bin ich stolz, besonders wenn ich die Resonanz des Buches bedenke. Meine Freunde haben das Buch wie kein zweites gefeiert. Rom hat es dagegen auf den päpstlichen Index der verbotenen Bücher gesetzt. In Deutschland und in den Niederlanden war wiederum das Buch ständig ausverkauft und die Verleger rannten mir das Haus ein und baten um Vorworte für die Neuauflagen. Auf der anderen Seite schrieb der bekannte Helmstädter Kollege Conring eine scharfe Kritik und verriss mein Buch, ich würde die Welt ins Chaos einer Revolution stürzen. Leider hielt sich in Deutschland diese törichte Behauptung und wurde von vielen nachgeplappert, die nie mein Buch gelesen haben. Ganz anders wurden dagegen meine Grundsätze in der Neuen Welt beachtet. Hier las man die Politica und sie half den Einwanderern, ihre ersten Gedanken zu einer neuen Verfassung zu formulieren. Und schließlich wurde ja die Politica auch in Deutschland wiederentdeckt und heute wird sie von Wissenschaftlern in der ganzen Welt diskutiert und ist sogar ins Deutsche übersetzt worden – und das nach 400 Jahren. Angesichts dieser späten Lorbeeren und Ehrungen muss ich manchmal schmunzeln: Komische Welt! Dabei habe ich doch nur gesagt: Jede Herrschaftsgewalt hat Vorgaben, etwa die Gerechtigkeit. Sie hat darum Grenzen. Und sie wird vom Souverän, dem Volk oder der Nation, nur auf Zeit dem Herrscher oder der Regierung verliehen. Minister sind darum, wie das Wort sagt, Diener des Volkes. Wird aber ein Herrscher tyrannisch, dann hat das Volk das Recht, ihm jederzeit die Herrschaftsgewalt zu entziehen. Will er nicht abtreten, dann hat das Volk, vertreten durch die Ephoren, ein Widerstands- recht. Da ich aber immer misstrauisch war gegenüber den Launen, dem Volkszorn und der Verführbarkeit einer Nation habe ich das Widerstandsrecht an ein bestimmtes Verfahren gebunden. Das war es eigentlich, was ich gesagt habe. Und es war für mich immer eine besondere Genugtuung, wenn sich Bürger auf dieses Menschenrecht des Widerstandes beriefen, aufstanden und gewaltfrei gegen Entmündigung und für die Menschenrechte eintraten. Wie es die großen Bürgerrechtsbewegungen in den USA oder Südafrika, der deutsche Widerstand oder die französische Résistance in der NS-Zeit beispielhaft getan haben. Aber wenn man in diesen Wochen in die Türkei oder nach Brasilien schaut, könnte man meinen, dass das Widerstandsrecht vielleicht noch seine Geschichte vor sich hat. Und so verhält es sich auch mit der Volkssouveränität. Sie schließt den Grundsatz ein, dass das, was alle Bürger betrifft und angeht, auch von allen beschlossen werden muss. Nun sehe ich, dass Europa allmählich zusammenwächst. Als Zeitzeuge des blutigen 30-jährigen Krieges freue ich mich ganz besonders darüber. Aber müssten denn die EU-Staaten nicht endlich einmal über ihre Verfassung abstimmen und über die Souveränitätsfragen entscheiden? Die vielen europäischen Einrichtungen und Maßgaben müssten doch endlich einmal eine Rechtsgrundlage haben! Und was mir bei der Vereinigung auch noch fehlt, ist der Bezug auf unsere europäische Geschichte. Die Nationen können erst ein vereintes Europa bilden, wenn sie ihre gemeinsame Geschichte einbeziehen. Erst aus dem Dialog mit der Geschichte kann eine solide Zukunft Europas entstehen. Ihr merkt, Politik ist und bleibt einfach meine Leidenschaft!

 

Auch für meinen Lebensweg bedeutete das Buch eine Wende. Ich wurde gewissermaßen über Nacht vielerorts bekannt und wurde entsprechend umworben. Mittlerweile war ich über 40 Jahre alt und hatte beruflich bislang nur gelehrt und Bücher geschrieben. Ich hatte einfach Lust, meine Ideen in die politische Praxis umzusetzen. Und als mir mein Freund Menso Alting ein attraktives Angebot der Hafenstadt Emden unterbreitete, kam mir das gerade recht. Emden galt damals als das „Venedig des Nordens“, täglich kamen dort 30 bis 40 Segler aus Übersee an und sorgten für den Reichtum der Stadt. Glaubensflüchtlinge aus Frankreich, den Niederlanden und England fanden in Emden Zuflucht und gründeten ihre Gemeinden. Insofern galt die Stadt auch als Hochburg des reformierten Bekenntnisses. Und für dieses reformierte Bekenntnis stand ja auch unsere junge Akademie in Herborn und es war auch mein Bekenntnis seit Kindertagen. Graf Johann war natürlich tief betroffen und enttäuscht, als ich ihm die Kündigung einreichte, aber wir versöhnten uns dann doch wieder und trennten uns in Freundschaft.

 

In Emden war ich als Syndicus beim Magistrat angestellt, ich arbeitete also als eine Art Stadtdirektor. Alle politischen Entscheidungen der Stadt liefen 30 Jahre lang über meinen Schreibtisch. In diesen Jahren hatte ich manchmal das Gefühl, auf einem Pulverfass zu sitzen. Ständig gab es Konflikte zwischen den unterschiedlichsten Interessengruppen. Es kam zu Aufständen in den Straßen und auf den Plätzen, so dass ich manchmal militärisch eingreifen ließ. Mitunter blies mir eine steife Brise ins Gesicht und ich war dann froh, dass mir der Herrgott ein starkes Rückgrat geschenkt hat. Ja, ich habe keineswegs immer die richtige Entscheidung getroffen...

 

Aber neben der Anstrengung im Beruf hatte ich auch einen sehr schönen Ausgleich in der Familie. Damals wurden unsere 6 Kinder groß. Die drei ältesten Maria Magdalena, Samuel und Anna Katharina wurden noch in Siegen und Herborn geboren. Henric, Hermann und Elisabeth in Emden. Hermann wurde Kapitän und immer wenn er nach wochen- und monatelangen Übersee-Reisen nach Hause kam, gab es eine tolle Familienfeier, er brachte exotische Geschenke mit und hat bis in die Nacht erzählt.

 

Warum berichte ich das alles? Nun, ich werde oft sehr einseitig wahrgenommen und in den Geschichtsbüchern dargestellt. Nur als Professor der Rechte. Nur als Vordenker der Demokratie. Nur als Syndicus von Emden. Diese Bilder möchte ich anlässlich der heutigen Geburtstagsfeier doch ein wenig hinterfragen und ergänzen. Das Leben und besonders mein Leben ist – Gott sei Dank – mehr als das, was die Gelehrten in Büchern und Aufsätzen über mich schreiben.

 

Zum Schluss möchte ich euch noch etwas mit auf den Weg geben und komme dazu auf einen Gedanken zurück, den ich gerade schon einmal angedeutet habe. Ich habe den Gedanken auf den ersten Seiten meiner Politica entfaltet, dort könnt ihr ihn nachlesen. Wir Menschen kommen ja als schreiendes Bündel zur Welt. Völlig hilflos. Nackt. Wir könnten nicht einen Tag überleben. Aber wir werden warm gebettet, bekommen zu essen und zu trinken, wir werden gekleidet, behütet und beschützt, werden ins Leben getragen, unterrichtet und ausgebildet. Vielen Menschen verdanken wir unseren Werdegang ins Leben: Mutter, Vater, den Geschwistern, Menschen, die uns fördern und fordern. Dies möchte ich herausstellen: In unserem späteren Leben geben wir das zurück,was wir zuvor empfangen haben. Zuerst einmal sind wir die Nehmenden! Habt aber dann den Mut, der Gemeinschaft als Gegengabe zurückzugeben, was ihr bekommen habt. Mit eurer Begabung, mit eurem Talent! Bedenkt dazu euer Leben immer wieder einmal von der Geburt her! Ihr werdet dankbar und hilfsbereit.

 

Ja, wenn mein Geburtstag ein wenig dazu beitragen könnte, ein bisschen Kampf- und Widerstandsgeist zu entzünden – gegen die verbreitete Müdigkeit, die Gleichgültigkeit und Trägheit im öffentlichen Leben – dann wäre dieser Tag ein guter Tag für euch, Eure Schule, eure Stadt und natürlich auch für mich. Ich wünsche euch, den Lehrern, Eltern und Schülern weiterhin den Geist zum Aufbruch und zur Verbesserung! Ich bedanke mich für euer aufmerksames Hinhören und Herrn Hollenstein fürs Verlesen meines Briefes!

 

Euer alter Namenspatron Johannes Althaus

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 


      

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